Melanie erklärt – Eifersucht, Unwahrheit

Melanie Bitterli ist seit langem ein Teil des Vereins, erst als Gastmutter, später im Vorstand und nun als ausgebildete Psychologin MSc zur Unterstützung von uns Gastfamilien. Sie erklärt uns Eifersucht und Unwahrheiten im Zusammenleben mit unseren Gastkindern.

Während vier Wochen im Jahr verbringen unsere Gastkinder ihre Zeit in einem anderen Alltag, in ihrer Gastfamilie. In diesem anderen Alltag wird anders gesprochen, es gelten (andere) Regeln, die Gastfamilie wohnt in einer anderen Umgebung, ungewohnt und neu sind die Freizeitaktivitäten und Beziehungsgefüge. Das Gastkind ist weit weg von seiner Herkunftsfamilie und seinem ihm bekannten Umfeld. Oft hat es bis zu diesem Zeitpunkt kaum andere Alltage erlebt. Von einem Tag auf den anderen ist es gefordert, sich mit ihm fremde Tagesabläufen und Personen auseinander zu setzen. Es fragt sich: “Was muss ich tun? Was wollen die von mir? Warum bin ich hier?“…viele weitere, individuelle Fragen kommen dazu. All dies stellt das Gastkind (und die Gastfamilie!) vor grosse Herausforderungen. Wie jedes Kind, möchte es sich – und seine Familie – in der Bewältigung dieser Aufgaben im besten Licht zeigen. Dazu wählt das Kind ihm bekannte Verhaltensweisen wie zum Beispiel Eifersucht und Unwahrheiten erzählen. In der Gastfamilie sind diese Handlungen schwer verständlich, da sich jedes Familienmitglied um ein Umfeld bemüht, in dem sich das Gastkind wohlfühlen kann. Gasteltern und Gastkinder fragen sich…“warum lügt er?“ … “sie hat doch keinen Grund, eifersüchtig zu sein?“ ….

Für obengenannte Phänomene oder Verhalten können unterschiedliche Theorien, eigene Erfahrungen oder Hypothesen als Erklärung beigezogen werden. Eine mögliche Erklärung bietet die Theorie der vier psychischen Grundbedürfnisse (Grawe 2004; Schär 2015).

Die psychischen Grundbedürfnisse sind evolutionär angelegt und wollen erfüllt werden. In Interaktion mit der Umwelt bilden sich sogenannte motivationale Schemata mit dem Ziel der Befriedigung dieser Bedürfnisse.
Motivationale Schemata sind Mittel, die das Individuum im Laufe seines Lebens entwickelt, um seine Grundbedürfnisse zu erfüllen und sie vor Verletzung zu schützen. Je nach gemachten Erfahrungen fokussiert das Schemata eher auf Annäherung (Erfüllung des Grundbedürfnisses) oder auf Vermeidung (Verhindern von Verletzung, Bedrohung oder Enttäuschung des Grundbedürfnisses). Bindung und Zugehörigkeit: Das Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung an eine verlässliche Bindungsperson ist ein evolutionär angelegtes Grundbedürfnis des Menschen und bereits bei Säuglingen vorhanden. Durch positive Bindungserfahrungen wie Schutz, Nähe, Trost und Sicherheit wird dieses Bedürfnis erfüllt. Kinder bauen so die Überzeugung auf, dass andere Menschen in der Regel hilfreich, wohlwollend, vertrauens-würdig und unterstützend sind. Wachsen Kinder in einem von Armut geprägten Umfeld auf, fehlen oft die familiären Ressourcen um das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu stillen. Die Kinder erfahren Unsicherheit und entwickeln ein Misstrauen gegenüber den Mitmenschen.

Orientierung und Kontrolle

Durch angemessene Befriedigung des Kontrollbedürfnisses, erlebt das Kind die Welt als beeinflussbar, vorhersehbar und kontrollierbar. Durch die so erlernte Grundüberzeugung eine Kontrollfähigkeit zu besitzen, kann das Kind abschätzen, ob es sich lohnt, sich einzusetzen und zu engagieren. Ungerechte Strafen, intransparente, diffuse oder fehlende Grenzen verletzen dieses Bedürfnis. Auch belastete Bezugspersonen, die keine ausreichende Kapazität haben auf die kindlichen Bedürfnisse sensibel genug zu reagieren, verhindern die Bedürfniserfüllung. Vernachlässigung und Misshandlung sind die massivste Form der Verletzung des Bedürfnisses nach Orientierung und Kontrolle.

Selbstakzeptanz und Selbstwert: Diesem Bedürfnis liegt die kognitive Fähigkeit zu Grunde, sich selbst bewusst zu werden und zum selbstreflektierenden Denken. Der Selbstwert entwickelt sich über mehrere Jahre und stabilisiert sich in der mittleren Kindheit (vor-pubertär). Unterstützt wird die Entwicklung durch ein wertschätzendes, empathisches und unterstützendes Umfeld. Ein dazu wichtiges Ereignis ist der Schuleintritt, da Kinder ab diesem Zeitpunkt mehr Rückmeldungen zu ihren Fähigkeiten erhalten als bisher. Bei nicht Erfüllung des Bedürfnisses fühlen sich die Kinder und Jugendliche inkompetent, nicht liebenswert, wertlos und schwach.

Autonomie und Freiheit: Unter Autonomie wird das Bedürfnis verstanden, dass die eigenen Gedanken und Handlungen selbstbestimmt und –gewollt sind. Autonomieerfahrungen bedingen einen sicheren Rückzugsort. Der sichere Rückzugsort wiederum verlangt nach einer stabilen Bindung, womit sich der Kreis der vier psychischen Grundbedürfnisse schliesst. Wird das Autonomiebedürfnis wiederholt frustriert, entsteht beim Betroffenen das Gefühl, nicht eigenständig zu sein und nicht denken zu dürfen. Kinder müssen jedoch lernen können, dass sie das Recht haben, ihre eigenen Wünsche, Gedanken und Gefühle zu haben. Eine Unterbindung dieses Lernprozesses erfolgt beispielsweise in symbiotischen Beziehungen oder in Familienbeziehungen mit unklaren Grenzen zwischen Eltern und Kind (Parentifizierung). Besonders erschwert ist die Autonomieentwicklung bei Kindern in schwer-belasteten Familien. Durch das Übernehmen von Elternrollen und -aufgaben fehlt ihnen die Kapazität, um autonome Schritte machen zu können.

Eine mögliche Erklärung der eingangs erwähnten Phänomene
Unsere Gastkinder leben während 11 Monaten im Jahr in schwer-belasteten Familiensystemen. Nebst sozialen Schwierigkeiten sind die Eltern oft auch psychisch und physisch belastet. Mit dem kurzen Einblick in die vier psychischen Grundbedürfnisse wird deutlich, dass die Voraussetzung zur Erfüllung dieser bei unseren Gastkindern erschwert ist. Aufgrund der Erfahrung, dass die Bedürfnisse nicht erfüllt werden, ziehen die Kinder Vermeidungsstrategien (verhindern von Enttäuschung) den Annäherungsstrategien vor. Sowohl Eifersucht wie auch Erzählen von Unwahrheiten können als Vermeidungsverhalten gesehen werden.
Beide Strategien können mit dem unerfüllten Bedürfnis nach Zugehörigkeit erklärt werden. Sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen gibt Sicherheit, Vertrauen und stärkt. Unsere Gastkinder konnten diese Erfahrung noch nicht ausreichend machen. Ihr Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit wurde aufgrund fehlender (familiärer) Ressourcen nicht ausreichend befriedigt. Dadurch gehen die Gastkinder tendenziell misstrauisch auf neue Begegnungen zu. Auch den Gastfamilien, den Schweizern, den Männern,… gegenüber sind sie zurückhaltend, misstrauisch und verunsichert.

In der Gastfamilie erleben sie nun ein Klima von Nähe, Wohlwollen und Sicherheit. Die Gastfamilie ist offen gegenüber dem Gastkind und lädt es ein, dazu zu gehören. Eine neue Situation und grosse Herausforderung für das Gastkind. Aufgrund der Erfahrungen und der ausgebildeten Schemata entscheidet sich das Gastkind für ein Vermeidungsverhalten. Anstelle dessen, was wir als Gastfamilie erwarten und gewohnt sind – dass sich das Kind freut, zum (Familien) System zu gehören – vermeidet das Gastkind eine Enttäuschung (wenn ich dazugehöre, kann ich auch wieder ausgeschlossen werden), indem es die Zugehörigkeit boykottiert: es reagiert eifersüchtig und beginnt „Lügen“ zu erzählen. Durch dieses Verhalten löst es in der Gastfamilie Missmut aus. Dieser Missmut lässt die Familie zusammenrücken und „schliesst“ das Gastkind „aus“.

Ideen, wie dem Verhalten begegnet werden kann. Die oben erwähnte Erklärung ist eine mögliche. Jedes Kind hat individuelle Erfahrungen gemacht und verhält sich entsprechend seinen Vorstellungen und den Möglichkeiten, die es zur Verfügung hat. Grundsätzlich können Sie sich bei einem für Sie unerklärlichen Verhalten des Gastkindes überlegen, welches Grundbedürfnis der Ursprung dieser Reaktion ist. Sie können dem Gastkind ein wertschätzendes („du bist gut, so wie du bist“), wohlwollendes und respektierendes („ich schätze dich, so wie du bist“) Gegenüber sein. Dadurch wird es dem Kind möglich, peu à peu Sicherheit zu erlangen und sein Misstrauen abzulegen. Ich wünsche Ihnen viel Zuversicht, Geduld und Freude beim Begleiten Ihres Gastkindes.

Fazit

Zu noch so kuriosen Situationen ja sagen, das Gastkind immer wieder in die gefestigten Strukturen unserer Familien aufnehmen und willkommen heissen und so dem Gastkind die Erfahrung ermöglichen: «hier ist eine Familie, in der ich sein darf wie ich bin».

 

Ergänzung

Jede Situation ist einzigartig, deshalb würde Melanie eine Gastelternrunde leiten und Fragen direkt auf die Situation beantworten. Für alle, die gerne dabei sein möchten, meldet Euch bei uns (siehe Kontakte bei Vorstand).

Wir organisieren den Anlass an einem Tag, an dem es möglichst allen interessierten Gasteltern geht.