Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen

Maria Montessori

Im letztjährigen Karussell haben wir uns mit Herausforderungen befasst, denen unsere Gastkinder häufig gegenüberstehen. Einen speziellen Fokus haben wir auf die Themen Eifersucht und Unwahrheiten erzählen gelegt. In dieser Ausgabe widmen wir uns einem Dilemma, dem wir Gasteltern zeitweise gegenüberstehen: Herkunftsfamilie – Gastfamilie

 

Das Dilemma
Während den vier Wochen im Jahr, in denen wir ein Ferienkind an unserem Familienleben teilhaben lassen, stellen wir Unterschiede zwischen unserem Familienverständis und dem des Gastkindes fest. Manchmal ertappen wir uns beim Gedanken, unser Verständnis sei das Richtige. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass unser Ferienkind seine eigenen Erfahrungen und Vorstellungen mitbringt. Es ist Gast bei uns und fragt nach dem Weg. Aus diesem Bewusstsein heraus, geben wir dem Gastkind unsere Erfahrungen und Ansichten weiter: wir pflegen Rituale, wir setzen und respektieren Grenzen, wir beschenken und verwöhnen, wir motivieren, ermuntern, fordern und fördern – manchmal geraten wir in Versuchung, das Ferienkind nach unseren Vorstellungen zu formen. Neben unserem Engagement vergessen wir zuweilen, dass wir nur ein kleiner Teil der Umgebung des Kindes sind. Ein wesentlich grösserer Teil ist seine Herkunftsfamilie. Nicht selten führt uns diese Tatsache in ein Dilemma. Wir wollen die Herkunftsfamilie respektieren. Gleichzeitig geraten wir in Versuchung, das Ferienkind über seine Lebenswelt «auszuhorchen», zu zeigen, dass wir es «besser wissen» oder unsere Vorstellungen als die einzig Richtigen zu betrachten. Nicht selten entstehen durch dieses Dilemma Gefühle von Unzufriedenheit, Unverständnis, Ungerechtigkeit oder auch Wut. Wie sollen wir mit den aufkommenden – unangenehmen – Gefühlen umgehen? Was können wir unserem Ferienkind auf seinen Weg mitgeben? Was können wir ihm Gutes tun? Wie gelingt es uns, zu respektieren, dass das Kind bei uns lediglich auf der Durchreise ist? Wie gelingt es uns zu respektieren, dass das Gastkind seine Wurzeln in der (prägenden) Herkunftsfamilie hat und wir nur während einer kurzen Zeit sein Wegbegleiter sind?

 

Salutogenese, Resilienz, Ressourcen, Schutzfaktoren
Der gemeinsame Wunsch der Erwachsenen – Eltern, Freunde, Gastfamilien – ist, dass die Entwicklung des Kindes eine positive Richtung nimmt und das Kind mutig und zuversichtlich seinen (Lebens)-Weg gehen kann. Als Gasteltern dürfen wir unser Ferienkind auf einem Stück seines Weges begleiten. Wir stärken, ermuntern und ermöglichen. Durch Wiedereinladung, Rituale und unserem unermüdlichen Beziehungsangebot bieten wir Sicherheit durch Konstanz. In der Psychologie finden wir dafür Begriffe wie Salutogenese, Resilienz oder Ressourcen. Der Begriff der Salutogenese wurde in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts durch den israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923-1994) geprägt. Die Salutogenese (=Gesundheit) geht im Gegensatz zur Pathogenese (=Krankheit) vom grundsätzlich gesunden Menschen aus und befasst sich mit den Faktoren, die zur Entstehung und Erhaltung von Gesundheit führen. Das Salutogenese-Prinzip versteht Gesundheit als Prozess, in dem nicht nur das Negative geschwächt, sondern gleichzeitig das Positive (=Ressourcen) gefördert wird. Durch den Auf- und Ausbau persönlicher Ressourcen (=Stärken) erlangt der Mensch Schutzfaktoren, um psychisch gesund (resilient) zu bleiben oder psychische Gesundheit wieder zu erlangen. Psychische Gesundheit trägt dazu bei, dass wir arbeits- und genussfähig bleiben.
Wie Grosseltern haben auch wir als Gasteltern keine erzieherischen Aufgaben. Vielmehr können wir unsere Energie darauf fokussieren, die Ressourcen (=Fähigkeiten, Schutzfaktoren) unseres Gastkindes zu stärken. Die Menschen im Allgemeinen und Kinder im Besonderen reagieren unterschiedlich auf Belastungen. Einige können ihr Leben trotz erheblicher Belastungen gut meistern, andere stolpern, leiden für gewisse Zeit und erholen sich anschliessend. Wieder andere bekunden Mühe damit, sich je wieder zu erholen. Je mehr Schutzfaktoren ein Mensch/Kind aufbauen kann, desto grösser ist seine Auswahl an Werkzeugen (=Fähigkeiten), die ihm helfen, nach einem Stolperer aufzustehen, sich zu erholen und zu gesunden.

In der Literatur wird zwischen äusseren, psychologischen und motivationalen Schutzfaktoren unterschieden. Die äusseren Faktoren beziehen sich auf das familiäre und soziale Umfeld, die Wirtschaftslage oder Freizeitmöglichkeiten. Kinder, die in einer stabilen Umgebung in sicherer Wirtschaftslage aufwachsen, haben bessere Ausbildungsmöglichkeiten. Die Teilhabe am sozialen Leben und der Austausch mit Gleichaltrigen (=Peers) ist aufgrund der Bereitstellung von Bildungs- und Freizeitangeboten gegeben. Darauf aufbauend haben die Kinder die Möglichkeit, ihre Ressourcen einzusetzen und auszuweiten. Bei den psychologischen Faktoren liegt der Fokus auf der psychischen Gesundheit und den neuronalen Prozessen. Die Interaktion zwischen den neuronalen Gegebenheiten und der Umwelt haben Einfluss auf die psychische Stabilität. Diese wiederum wirkt sich Ressource stärkend oder schwächend aus. Die Selbstbestimmungs- und Emotionsregulationsfähigkeit werden als motivationale Faktoren bezeichnet. Die Motivation, und die damit eng verbundenen Emotionen, für eine eigenverantwortliche Selbstbestimmung und eine gesunde Lebensgestaltung, sind abhängig vom eigenen Kompetenzerleben (was kann ich?), der Unabhängigkeit (kann ich es alleine?) und dem Leben in Beziehungen (an wen kann ich mich wenden?). Das Erleben von Zugehörigkeit ist ein wesentlicher Baustein für die eigene Identität. Die Unabhängigkeit von Vorgaben anderer ermöglicht, eigene Interessen umzusetzen. Das damit verbundene Erleben von Kompetenz wirkt sich positiv auf den Selbstwert und die Zuversicht aus.

 

Die Wichtigkeit der Herkunftsfamilie
Wichtige Schutzfaktoren für eine positive Entwicklung sind die gelungene Einbindung in die Herkunftsfamilie und emotionaler Rückhalt. Ein Kind weiss implizit von dieser Wichtigkeit und versucht alles, seine Herkunftsfamilie in das für sich richtige Licht zu stellen und verzeiht Eltern noch so manchen Fehler. Dieses Verhalten ist umso wichtiger, da das Fortbestehen einer Bindung Sicherheit gibt, während ein drohender Verlust der Beziehung Angst auslöst. In der Herkunftsfamilie schlagen die Kinder Wurzeln, sammeln erste Erfahrungen und machen sich auf den Weg.
Häufig sind unsere Gastkinder mit eingeschränkten familiären, sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen konfrontiert. Die oben genannten äusseren Faktoren im Umfeld des Kindes erschweren die Entwicklung von Schutzfaktoren. Die Herkunftsfamilie ist sich dieser Einschränkungen bewusst und ermöglicht ihren Kindern die Teilhabe am Kindergarten, Schule, Hort. Aufgrund eigener Erfahrungen, persönlichen Ressourcen wie Mut und Zuversicht und dem Bedürfnis, dass sich ihr Kind trotz aller Widrigkeiten positiv entwickeln kann, ermöglichen sie ihrem Kind Ferien bei einer Gastfamilie. Die Kinder können so am sozialen Leben teilhaben, sich mit Gleichaltrigen austauschen und Erfahrungen in anderen Lebensbereichen sammeln. Die Herkunftsfamilie leistet, indem sie uns als Gasteltern ihr Kind anvertraut einen wesentlichen Beitrag, damit dieses verschiedenste Schutzfaktoren aufbauen kann. Sie bleibt gleichzeitig die wichtigste Stütze im Leben des Kindes. Das Kind ist eingebunden in das familiäre Umfeld und erfährt Rückhalt, indem sich die Familie ihrer beschränkten Möglichkeiten bewusst ist und das Ressource fördernde Umfeld für das Kind aktiv erweitert.

 

Die Gastfamilie als Schutzfaktor
Die Herkunftsfamilie vertraut uns ihr Kind während einigen Wochen des Jahres an. Wir dürfen während dieser Ferienzeit an der Erweiterung der Schutzfaktoren unseres Gastkindes beitragen und teilhaben. Durch Kontinuität, wertefreies Gegenübertreten, Motivieren und Engagieren ermöglichen wir dem Gastkind Erfahrungen, die es in seinem Alltagsumfeld nicht oder nur eingeschränkt machen kann. In Achtung vor den Möglichkeiten und dem Engagement der Herkunftsfamilie erweitern wir den Handlungsspielraum des Gastkindes. Wir schaffen positive Orte, die für das Kind anregend und strukturiert zugleich sind. Wir fördern eine authentische Kommunikation, achten aufeinander und schaffen so Möglichkeiten, Neues zu lernen und die erworbenen Kompetenzen in die Gemeinschaft (Gastfamilie) einzubringen. Dadurch stärken wir das Kompetenzerleben und die Selbstwirksamkeit unseres Gastkindes. Während ein paar Wochen im Jahr erlebt das Gastkind Lebenswelten, Verhaltensweisen, Bewältigungsstrategien und Werthaltungen, die ihm möglicherweise fremd sind. Gleichzeitig erlebt es neue Erfahrungen im Bereich der Zugehörigkeit, der sozialen Interaktionen und des Kompetenzerlebens. Durch die Erweiterung seiner eigenen Lebenswelt, den neuen Erfahrungen und einem ihm unbekannten sozialen Umfeld, wird die Zunahme und Stärkung der persönlichen Schutzfaktoren begünstigt. Entsprechend dem Prinzip der Salutogenese leisten wir als Gastfamilien einen wesentlichen Beitrag zur Resilienz- und Ressourcenförderung unserer Gastkinder. Durch die Erweiterung der Schutzfaktoren erhalten unsere Gastkinder zusätzliches Werkzeug zur Unterstützung in der Bewältigung all ihrer Stressoren. Mit unserem Engagement tragen wir dazu bei, dass unsere Gastkinder trotz widriger Umstände gesund bleiben und somit arbeits- und genussfähig bleiben.

 

 

Weiterführende Literatur
Antonovsky, A. (1997), Salutogenese, zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübigen: Dgvt-Verlag
Bowlby, J. (2014). Das Glück und die Trauer. Stuttgart: J.B. Cottaßsche Buchhandlung Nachfolger GmbH
Brendtro, L:K.& Steinebach, C. (2012). Positive Psychologie für die Praxis. Weinheim: Belzt
Schär, M., & Steinebach, C. (2015). Reslilienzfördernde Psychothrapie mit Kindern und Jugendlichen. Basel, Weinheim: Beltz Verlag.
Zeltner E., (1996), Mut zur Erziehung. Bern: Zytglogge